„Remigration“ – Unwort des Jahres 2023
von Dr. Julien Bobineau
In einem konspirativen Geheimtreffen haben Politiker:innen der Alternative für Deutschland (AfD), Mitglieder der Werteunion, Neonazis und Unternehmer:innen über die massenhafte Deportation von Menschen mit Migrationsgeschichte diskutiert. Das hat das Recherchezentrum Correctiv Anfang Januar 2024 offengelegt und ausführlich über die Veranstaltung berichtet, die im November 2023 im Landhaus Adlon in der Nähe von Potsdam stattfand. Im Vorfeld des Treffens wurde laut Correctiv-Recherchen damit geworben, dass ein „Gesamtkonzept, im Sinne eines Masterplans“ durch den Neonazi und Chef-Ideologen der rechtsextremen Identitären Bewegung, Martin Sellner, vorgestellt werde. Zentrale Idee von Sellners „Gesamtkonzept“ ist die sogenannte „Remigration“, die massenhafte Ausweisung von Menschen mit Migrationsgeschichte und die Rückführung dieser Menschen in ihre ursprünglichen Herkunftsländer. Doch woher stammt der ideologische Unterbau von Sellners Ansatz? Welche geistesgeschichtlichen Ursprünge liegen der rassistischen Betrachtung von Migration zugrunde? Dieser Blogbeitrag will den historischen Ursprüngen des rechtsextremen „Gesamtkonzeptes“ nachgehen und erläutern, wie sich die Geschichte von Rassismus, der Rassebegriff und rassistische Denktraditionen in der rechtsextremen Forderung nach „Remigration“ widerspiegeln.
„Masterplan“ für eine massenhafte „Remigration“
Die Idee der „Remigration“ ist nicht neu, denn der Begriff wird von AfD, Neonazis und völkischen Gruppierungen bereits seit 2015 als Schlagwort genutzt. Was an der aktuellen Debatte allerdings neu erscheint, ist die konkrete Ausgestaltung der „Remigrationspläne“. Denn während des Geheimtreffens in Brandenburg wurde relativ deutlich festgelegt, was die neue Rechte unter der „Remigration“ versteht: Für Migrant:innen und solche Menschen, die sich in Deutschland für Geflüchtete einsetzen, solle ein „Musterstaat“ in Nordafrika mit Platz für bis zu zwei Millionen „bewegte“ Einwohner:innen entstehen. Bis dahin wolle man, so der ebenfalls anwesende AfD-Fraktionsvorsitzende aus Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, das Leben in Sachsen-Anhalt für „diese Klientel möglichst unattraktiv“ gestalten. Ziel der „Remigrationsbewegungen“ sei die schrittweise Erreichung der „völkischen Reinheit“ in Deutschland. Sellner bezog sich bei seinen faschistoiden Ausführungen auf Asylbewerber:innen, Ausländer:innen mit Bleiberecht und Menschen, die der Neonazi Sellner als „nicht-assimilierte“ Staatsbürger:innen bezeichnet, also solche Menschen, die sich nicht an die „deutsche Kultur“ anpassen. Was genau mit „deutscher Kultur“ gemeint ist, bleibt dabei offen. Klar ist nur, dass Sellner, ebenso wie der Großteil rechtsextremer Positionen bei AfD, Identitärer Bewegung und Werteunion, von einem starren, essentialistischen Kulturkonzept ausgehen. Diesem Konzept folgend würde Kultur in klar abgesteckten und voneinander unterscheidbaren Räumen nach festen Regeln stattfinden – ein Kulturverständnis, das es in dieser Form nie gegeben hat. Kultur ist – und war schon immer – gekennzeichnet von fließenden Grenzen, dynamischen Veränderungen und offenen Räumen.
Menschenfeindliche Nazi-Rhetorik & Rassistische Ideologie
Ähnliche Pläne einer massenhaften „Remigration“ entwickelte übrigens ein gewisser Adolf Hitler im Jahr 1940. Damals überlegte man im Nazi-Führungsstab, mehrere Millionen Jüd:innen auf die afrikanische Insel Madagaskar zu deportieren. Dass die von Sellner, AfD und Wertenunion gewählten Begriffe an die menschenfeindliche Rhetorik der Nationalsozialisten erinnert, ist kein Zufall. Dazu passt auch, dass das Geheimtreffen in der Nähe von Potsdam nur acht Kilometer entfernt von dem Ort stattfand, an dem führende Nationalsozialisten im Januar 1942 auf der sogenannten Wannseekonferenz die Systematik und das weitere Vorgehen bei „Endlösung“ der „Judenfrage“ festlegten. Auch die Aussage, dass man das Leben für bestimmte Menschen in einigen Regionen Deutschlands „möglichst unattraktiv“ gestalten wolle, lässt direkt an die gewaltvollen Maßnahmen gegen Jüd:innen bspw. im Kontext der Reichspogromnacht am 9. November 1938 denken. Rechtsextreme Politik ist also immer auch Symbolpolitik. Und rechtsextreme Politik bedient sich auch immer der Verschleierung, Beschönigung und subtilen Tarnung. Denn was Sellner und seine Anhänger mit dem Begriff der „Remigration“ eigentlich meinen, ist die massenhafte und gewaltvolle Vertreibung von Menschen auf der Basis von Hautfarbe, Herkunft und Position zur „deutschen Kultur“. Dahinter steckt eine zutiefst rassistische, menschenverachtende und protektionistische Rassenideologie einer „völkischen Reinheit“, die ihren Ursprung bereits im Mittelalter findet: Der Begriff der ‚Rasse‘, der dem „Remigrationsgedanken“ zugrunde liegt, wurde erstmals vor ungefähr 500 Jahren aus der Pferdezucht auf den Menschen übertragen.
Die erste ideologisch motivierte „Remigration“ in der Geschichte Europas
Die erste, ideologisch begründete „Remigration“ der Neuzeit fand vor diesem Hintergrund im Zuge der spanischen Reconquista ab dem Ende des 8. Jahrhunderts statt. Dabei ging es um Rückeroberung der arabisch dominierten Gebiete in Spanien. Die Reconquista hatte die Vertreibung der aus katholischer Sicht ‚ungläubigen‘ Muslime und Jüd:innen zum Ziel. Viele Muslime und Jüd:innen traten daraufhin zum Katholizismus über – einerseits aus Angst vor der Verfolgung, andererseits auch, um sich zu ihrer Heimat zu bekennen. Durch die zahlreichen Konvertierungen sahen die spanischen Autoritäten in der Konfession kein Zugehörigkeitskriterium mehr. Sie propagierten deshalb die „Reinheit des Blutes“ als ausschlaggebend – Menschen mussten fortan nachweisen, dass ihre Familien über Generationen katholisch lebten und „blutrein“ waren, um nicht nach Nordafrika vertrieben bzw. „remigriert“ zu werden. Mit der Einteilung von Menschen in „Rassen“ und die Verfolgung sowie Vertreibung der „falschen Rassen“ war der moderne Rassismus geboren – und mit diesem Konzept die Idee der institutionalisierten „Remigration“.
„Remigration“ – Die Schaffung einer Grundlage während der Kolonialzeit
Die Übertragung des Rassebegriffs von Pferden auf den Menschen diente also von Beginn nicht dazu, um Menschen neutral zu kategorisieren und zu unterscheiden. Vielmehr manifestierte sich mit dem Konzept der „Rasse“ während der Reconquista eine hierarchische Opposition zwischen ‚wertigen spanischen Christ:innen‘ und ‚minderwertigen Muslim:innen und Jüd:innen‘. Diese wertende Einteilung von Menschen nach religiösen und später auch äußerlichen Merkmalen war Europa vor allem ab 1492 im Zeitalter des Kolonialismus besonders dienlich: Mit der Landung von Christopher Kolumbus in den Amerikas begann die Zeit der europäischen „Entdeckungsreisen“. Die „Entdecker“ nutzten den wertenden Rassebegriff, um die vielfältigen außereuropäischen Kulturen, auf die man traf, zu kategorisieren – und die ideologische Grundlage für deren Ausbeutung zu schaffen. Man entwickelte den Rassebegriff in der Folge weiter, um ‚zivilisierte‘ Europäer:innen von den angeblich ‚unzivilisierten‘ Bewohner:innen der außereuropäischen Welt zu unterscheiden. Diese angebliche Hierarchie der „Rassen“ rechtfertigte während der Kolonialzeit millionenfache Sklaverei und wirtschaftliche Ausbeutung, Mord, Missionierung und Umsiedlung, da man die ‚fremden‘ Bevölkerungen als minderwertig betrachtete und daraus die gottgegebene Aufgabe ableitete, dass man über diese Menschen herrschen müsse.
Weiterentwicklung des Rassebegriffs im 18. und 19. Jahrhundert
Mit dem universalen Menschenbild der europäischen Aufklärung bedurfte es dann radikalerer und „ausgefeilter“ Rechtfertigungsstrategien. So reklamierten die schwarzen Bevölkerungen in der französischen Kolonie Haiti am Ende des 18. Jahrhunderts, dass die Allgemeinen Menschenrechte der Französischen Revolution auch für sie gelten müssten. Als Konsequenz erlangte Haiti nach einem blutigen Unabhängigkeitskrieg schließlich seine Unabhängigkeit im Jahre 1804. Um die Versklavung nicht-europäischer Menschen weiterhin zu rechtfertigen, entwarfen europäische Philosophen, Mediziner und Ethnologen das angeblich ‚natürliche‘ Hierarchiesystem aus weißen, gelben, roten, braunen und schwarzen „Rassen“. Dabei stand die weiße „Rasse“ immer an der Spitze, während sich die schwarze „Rasse“ am unteren Ende befand. Die toxische Verbindung aus Aussehen und Wert eines Menschen war damit geboren. Diese global wirkende Ungleichbehandlung wurde zudem mit pseudowissenschaftlichen Disziplinen an Universitäten in ganz Europa im 19. Jahrhundert verstärkt. Der Biologe Charles Darwin entwickelte die Idee der „Reinheit der Rasse“ weiter, die während der Reconquista in Spanien manifestiert wurde, um die angebliche historische Überlegenheit der weißen „Rasse“ auch weiterhin zu „sichern“. Im Zuge von Darwins Idee des Survival of the Fittest, also dem Überleben der am besten angepassten Individuen, sollten „Verunreinigungen“ und „Defizite“ ausgelöscht werden – die Grundlage für die spätere nationalsozialistische Idee von „Remigration“, also der massenhaften Vertreibung und Ermordung von Menschen mit Migrationsgeschichte, die nicht in das rassistische Konzept der „völkischen Reinheit“ passten.
Die NS-Zeit – Von der massenhaften „Remigration“ zur vollständigen Vernichtung
In der NS-Zeit wurde der jahrhundertelang entwickelte Rassebegriff schließlich auch nationalistisch ausgelegt. Im Zuge der sogenannten Blut-und-Boden-Ideologie verknüpfte man Abstammung, Religion und Aussehen – wie schon in Zeiten der spanischen Reconquista – mit räumlichen Einheiten wie dem Staatsgebiet. All diejenigen Menschen, die aufgrund von Religionszugehörigkeit oder Migrationsgeschichte nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten, sollten zunächst vom deutschen Staatsgebiet vertrieben, also „remigriert“, werden. Dabei war egal, ob es sich um deutsche Staatsbürger:innen handelte oder nicht. Im weiteren Verlauf ging es den Nationalsozialisten nicht mehr nur alleine um eine Abwertung und die massenhafte Vertreibung von Menschen, sondern auch um die vollständige Vernichtung abgewerteter Menschen. Willkürliche Kategorisierungen von „arischen“, „germanischen“, „asiatischen“, „negroiden“ und „semitischen“ „Rassen“ führten in Verbindung mit der antisemitischen Blut-und-Boden-Ideologie schließlich von der „Remigration“ hin zur systematischen Vernichtung von über sechs Millionen Jüd:innen in den Konzentrationslagern.
Der Rassebegriff und „Remigration“ nach 1945
Um die Wiederholung einer solchen humanitären Katastrophe für alle Zeiten zu verhindern, legten die Urheber des deutschen Grundgesetzes nach 1945 besonderen Wert auf Art. 3, wonach niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf. In der Wissenschaft wird seit einigen Jahren der Gebrauch des Rassebegriffs im Grundgesetz kritisiert, denn heute wissen wir: Der Rassebegriff entbehrt jeder biologischen Grundlage und war stets ein sozial konstruiertes Konzept, um bestimmten Menschengruppen den Zugang zu Räumen, Besitz und Macht zu verwehren. Oder um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Es gibt aus biologischer Sicht keine Menschenrassen. Äußere Merkmale wie die Hautfarbe spiegeln lediglich die biologische und genetisch vererbbare Anpassung an den Grad der Sonneneinstrahlung wider. Und dennoch ist der historisch gewachsene Rassebegriff verantwortlich für die millionenfache Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen – und das bis heute. Das Konzept der „Remigration“, das von AfD, Werteunion und anderen Neonazis in Potsdam diskutiert wurde, steht damit in einer äußerst problematischen Tradition menschenverachtender Konzepte von der rassistischen Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen.
Warum wir in Deutschland keine „Remigration“, sondern Migration brauchen
Die von Sellner geäußerte Idee der „Remigration“ von nicht-deutschen und deutschen Staatsbürger:innen verstößt einerseits gegen das Staatsbürgerrecht und andererseits gegen den Gleichheitsgrundsatz in der deutschen Verfassung. Das Bekenntnis zur europäischen Idee und den Werten der Europäischen Union verpflichtet Deutschland, über nationale Grenzen hinweg zu denken. Die fortschreitende Globalisierung und der damit verbundene massenhafte Austausch von Kapital und Waren funktionieren nicht ohne Migration. Anders ausgedrückt: Wenn Deutschland weiterhin von den Vorzügen günstiger Lebensmittel, Elektroartikel oder Kleidung aus Asien, Afrika und Südamerika profitieren will, dann geht das nicht ohne Migrationsbewegungen von Menschen. Ungeachtet dessen ist Deutschland aufgrund der demographischen Entwicklung gerade jetzt auf ausländische Fachkräfte angewiesen, laut IFO-Institut mit steigender Tendenz. Denn bis 2060 werden sich in Deutschland nach aktuellen Berechnungen über 30% oder bis zu 16 Millionen Personen Arbeitskräfte weniger auf dem Arbeitsmarkt befinden als heute. Wir brauchen in Deutschland also keine Remigration, sondern Migration. Derzeit werden in den Bereichen Handwerk, Pflege, IT, Logistik, Bau und Industrie händeringend Bewerber:innen gesucht, die entsprechende Tätigkeiten übernehmen und zu Innovation, Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Wachstum beitragen. Schon heute liegt der Anteil der deutschen Bewohner:innen mit Migrationsgeschichte bei 28,7% (2022) – auch hier mit steigender Tendenz. Migration, Integration und Inklusion sind unverzichtbare Potentiale unserer wirtschaftlichen Zukunft. Wenn wir weiterhin in Wohlstand und Sicherheit leben wollen, müssen wir lernen, sie gemeinsam effizient zu nutzen.
Übrigens: Unseren Blogbeitrag mit 6 Tipps für die perfekte Integration von internationalen Fachkräften finden Sie hier.